Liebe Schwestern und Brüder,
herausfordernde Zeiten liegen hinter uns und wohl auch noch vor uns. Erst seit wenigen Wochen können
wir wieder sehr eingeschränkt öffentliche Gottesdienste in den Pfarreien feiern und für viele ist das – und
das verstehe ich sehr gut – ungewohnt, weil es für die Mitfeiernden mit Vorgaben verbunden ist, die das
gemeinsame Feiern erschweren und kein Fest in der Weise möglich ist, wie wir es gewohnt sind, wenn
wir an Sonn- und Feiertagen zusammenkommen, um miteinander den Tod und die Auferstehung Jesu zu
feiern. Intensiv bemühen wir uns darum, das möglichst bald so zu verändern, dass die Gottesdienste
wieder wirklich ein Fest des Glaubens, der Begegnung, der Gemeinschaft mit Gott und untereinander
werden können.
Viel wird darüber gesprochen, ob diese „Corona-Zeit“ auch eine Wendezeit für die Gesellschaft und für
die Kirche ist. Jedenfalls hat diese Zeit viele Menschen neu dazu gebracht, über unser Leben
nachzudenken, über unsere Familien, unsere Beziehungen, die Beziehung zwischen den Generationen,
den Wert unserer Arbeit, ja, auch den Wert des sonntäglichen Gottesdienstes.
Mir scheint, dass besonders die Kinder, die Familien und die älteren Menschen die Lasten dieser Zeit
getragen haben und weiter tragen. Schwer war und ist es vor allem für die, die einen lieben Menschen
verloren haben ohne wirklich Abschied nehmen zu können und gemeinsam mit Verwandten und
Freunden einen Verstorbenen auf seinem letzten Weg zu begleiten.
Zugleich waren viele Menschen stark im Einsatz in dieser Zeit: Ich möchte allen herzlich danken, die in
den Pfarreien und in verschiedenen Gemeinschaften aufeinander achten, füreinander sorgen und
miteinander versuchen, die Lasten zu tragen, nicht zuletzt auch den Seelsorgerinnen und Seelsorgern. Ich
danke allen im Bereich des Gesundheitswesens und der Seniorenheime, in der Pflege, in den Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen und in allen Bildungseinrichtungen, die versucht haben,
auch unter den gegebenen Bedingungen den Menschen nahe zu sein.
Viele bewegt auch die Frage: Wo ist Gott in der „Corona-Krise“? Hat er uns verlassen? Nimmt er teil an
unserem Leben und Sterben? An unserem Ringen und Suchen? Diese Fragen gelten natürlich immer. Sie
werden drängender, wenn ein lieber Mensch stirbt, wenn Naturkatastrophen in Teilen der Welt gerade die
Armen treffen, wenn Kriege und Gewalt, Unterdrückung und Elend Menschen bedrängen und bedrohen.
Wo ist da Gott? Im Glauben müssen wir erkennen und anerkennen, dass wir Geschöpfe sind, dass wir
sterbliche Menschen. Wir sind nicht Gott! Wir sind Geschöpfe und bleiben dem Tod ausgeliefert.
Sterblichkeit, Krankheit, Verwundung, Sünde, Versagen, Katastrophen – all das gehört auch zu unserem
Leben, gerade weil wir Teil der Schöpfung sind, die nicht unendlich und nicht vollkommen sein kann.
Und Gott ist eben kein Teil der Schöpfung. Er ist der Schöpfer. Er bleibt das absolute Geheimnis, zu dem
wir von uns aus keinen Zugang haben. So bleiben wir als Menschen in gewisser Weise beschränkt auf die
Möglichkeiten unseres Denkens und Suchens und stoßen in unserem Ruf nach Gott, in unserem Zweifel
an die Grenze unserer Möglichkeiten. Die Kernfrage ist aber dann: Gibt es eine Hoffnung? Gibt es einen
Anhaltspunkt von Gott zu sprechen, ihn zu erfahren, den Weg Gottes zu erkennen? Ja, denn wir Christen
glauben, dass dieses absolute Geheimnis uns einen endgültigen Weg gezeigt hat, indem Gott Mensch
wurde, einer von uns, sterblich, „in allem uns gleich, außer der Sünde“, wie es der Heilige Paulus sagt.
Das ist der Kern des christlichen Glaubens. Und so dürfen wir in allem eine Hoffnung haben: eine
Hoffnung, dass unser sterbliches Leben nicht das letzte Wort ist; eine Hoffnung, dass unsere Sünden und
unser Versagen vergeben und unsere Wunden geheilt werden können; eine Hoffnung, dass wir am
Beispiel Jesu lernen können, wie Gott erfülltes Mensch-Sein will und schenkt.
Wenn wir die „Corona-Krise“ als Zeichen der Zeit sehen, dann hilft sie uns neu, den Blick zu schärfen für
das Geheimnis Gottes und darauf zu richten, dass wir nicht im Leeren suchen, sondern Gott uns finden
kann in der Gestalt Jesu von Nazareth, jede und jeden von uns. Und dass er in diesem Jesus von Nazareth
der Bruder aller Menschen geworden ist. Deshalb wenden wir gerade als Christen auch in einer solchen
Herausforderung den Blick hin zu den Armen, den Schwachen, den Kranken, den Unterdrückten der
Welt. Der Gott, von dem Jesus spricht, ist eben kein gleichgültiger Gott, der über die Tränen und Ängste
und Katastrophen der Menschen hinweggeht, sondern der sich in sie hinein begibt und so Hoffnung
ermöglicht und Beziehung und Aufbruch. Dann spüren wir, wie wichtig gerade die gemeinsame Feier des
Gottesdienstes ist, das Gebet und das konkrete Leben, in dem wir Zeugnis geben von diesem Geheimnis,
das uns nahe gekommen ist. Das tun wir als Christen ja nicht nur für uns. Wir tun das, um allen
Menschen Zeugnis zu geben von der Liebe Gottes.
Und deshalb hoffe ich sehr, dass wir bald wieder in einer gewohnteren Weise die Feier des
Gottesdienstes, das gemeinsame Gebet, die gemeinsamen Traditionen in unseren Pfarreien öffentlich
erleben können. Vielleicht haben wir in den letzten Wochen sogar erfahren, dass Menschen, die sonst
nicht aktiv am Leben der Pfarreien teilnehmen, doch interessiert sind am Glauben und am Beitrag der
Kirche in dieser Zeit. Auch sie wollen, dass es Kirche gibt. Unsere stärkere Präsenz in den sozialen
Medien hat gezeigt, dass viele Menschen Kontakt gesucht haben und sich auf diesen Plattformen
eingefunden haben. Ich habe das in vielen Rückmeldungen und Briefen gespürt. Vielleicht ist das auch
ein hoffnungsvolles Zeichen für die Zukunft. Denn es ist mir ein großes Anliegen, dass wir die Türen
zum Glauben – in den Kirchen und auch in den sozialen Medien – weit offen halten!
Liebe Schwestern und Brüder, zu allen Zeiten – das gilt für unsere persönliche Lebensgeschichte, aber
auch für unser gesellschaftliches Miteinander – gibt es Zeichen, die wir im Licht des Evangeliums lesen.
Auch in der jetzigen Zeit können wir das tun. Und gerade an Pfingsten wird uns dazu ja die Kraft des
Geistes geschenkt, dass wir versuchen, im Geist des Evangeliums zu erspüren, worauf es wirklich
ankommt: der Respekt vor jedem Menschenleben, die Einheit der Menschheitsfamilie, die Sorge um die
Schwachen und Kranken, die Hoffnung angesichts des Sterbens, die Feier des unzerstörbaren Lebens in
der Heiligen Messe angesichts von Sterben und Tod! Da werden wir auch nach der „Corona-Zeit“ weiter
gebraucht, auch als Zeichen für die Welt.
Ich danke Ihnen allen sehr herzlich für Ihre Treue im Gebet und im Miteinander in den Pfarreien,
Ordensgemeinschaften, geistlichen Bewegungen, Familien, Nachbarschaften.
Möge der Geist Gottes uns neu die Kraft geben, uns zu konzentrieren auf das Zentrum unseres Glaubens:
auf Christus, der der Weg und die Wahrheit und das Leben ist.
Beten wir besonders in den Wochen nach Pfingsten gemeinsam:
„Herr, sende aus Deinen Geist und das Angesicht der Erde wird neu!“
In der Verbundenheit des Gebetes
Ihr
Reinhard Kardinal Marx
Erzbischof von München und Freising
München, am Pfingstfest 2020